Unerbittlichkeit des Algorithmus: Selbstausführende Verträge

Aufgrund der rapiden technologischen Entwicklung werden sich bereits in naher Zukunft viele Vertragsbeziehungen drastisch ändern. Dieser Beitrag wirft einen Blick voraus auf die „schöne neue Welt“ der Verträge.
Ein Schloss mit Schlüssel an einem Stapel Papier, vermutlich ein Vertrag.Steve Buissinne auf Pixabay

„The ties that bind.“ Vertragliche Bindungen werden fester. (Bild: Steve Buissinne, Pixabay)

Der neue Fernseher vom Versandhändler ist bereits bei der Ankunft defekt, oder das Konzert, für das man Eintrittskarten besitzt, wird kurzfristig abgesagt. Beides ist ärgerlich – denn eine Vertragsvereinbarung, auf die man sich verlassen hat, wird nicht eingehalten. Verträge halten die Versprechen von Leistung und Gegenleistung der Vertragsparteien fest. Erst solche gerichtlich durchsetzbaren Absprachen machen einen modernen Warenverkehr möglich und sind daher wirtschaftlich höchst bedeutsam.

Eine mögliche Vertragsverletzung bereitet vor allem der Vertragspartei Kopfschmerzen, die einen Teil oder gar die gesamte Leistung erbringen muss, bevor die Gegenleistung erfolgen soll. Wir erinnern uns alle an Fernsehbilder frustrierter Reisender, die aufgrund der Insolvenz der Fluggesellschaft ihren gebuchten Flug nicht antreten konnten. Sie hatten ihren Flug oft Monate im Voraus bezahlt und auf Leistungsfähigkeit und -bereitschaft des Vertragspartners vertraut. Typischerweise können die enttäuschten Reisenden nur darauf hoffen, im Rahmen des Insolvenzverfahrens einen Teil des Flugpreises zurückzuerhalten.

Eine Frau mit Mundnasenschutz sitzt in einem leeren Flughafen auf ihrem Koffer.
Zukünftig weniger Sorgen bei Reisenden? (Bild: Anna Shvets, Pexels)

Vereinbarungen für das 21. Jahrhundert: Selbstausführende Verträge

Selbstausführende Verträge („Smart Contracts“) machen das bisher so wichtige Vertrauen der Vertragspartner weniger bedeutsam und werden zukünftig viele aktuelle Arrangements ersetzen. Selbstausführende Verträge besitzen eine auf einem Computerprogramm basierende Vollzugskomponente, die Leistungen – beispielsweise Zahlungen – auslöst, sobald bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Besonderheit dieser neuartigen Vertragsform ist, dass die getroffenen Regelungen und ihr Vollzug aufgrund ihrer formalen Struktur nicht mehr veränderbar sind. Smart Contracts nutzen dazu die Blockchain-Technologie, ein dezentrales digitales Buchführungssystem. Der Leistungstransfer ist im wahrsten Sinne des Wortes „vorprogrammiert“.

In Zukunft werden selbstausführende Verträge Teil unseres Alltags sein. Flugtickets werden erst im Moment des Abfluges bezahlt, denn der selbstausführende Vertrag sichert der Fluggesellschaft die vertragsgemäße Zahlung. Bahnreisende werden ihre Erstattung automatisch in dem Moment erhalten, in dem ihr Zug die entsprechende Grenze der Verspätung überschreitet. Wenige Minuten nachdem ein:e Versicherte ein Foto des Unfallwagens übermittelt, wird die Versicherung Geld überweisen. Überall macht die Zwangsläufigkeit des Computeralgorithmus das Vertrauen in den Vertragspartner nicht mehr notwendig.

Aktuell läuft die Entwicklung selbstausführender Vertragsstrukturen auf Hochtouren. Zu Beginn des Jahres 2018 waren beispielsweise allein auf der Entwicklerplattform Github Hunderte von Smart-Contract-Projekten registriert. Auch im Koalitionsvertrag von 2018 haben sich die deutschen Regierungsparteien darauf verständigt, Smart Contracts zur Erleichterung rechtlicher Durchsetzbarkeit zu fördern.

Vorsicht im „smarteren“ Alltag

Trotz positiver Aussichten der neuen vertraglichen Möglichkeiten halte ich eine technologiegläubige Blauäugigkeit für unangebracht. Es ist zunächst darauf zu achten, dass der durch einen Algorithmus gesteuerte Vertragsablauf nicht geltendem Recht zuwiderlaufen darf. Gerade in der Übergangsphase wird es Versuche geben, Schutzrechte, z. B. von Mietern oder Anlegern, über die technologische Implementierung auszuhebeln.

Aus praktischer Sicht ist wichtiger, dass selbstausführende Verträge das Kräfteverhältnis in Vertragsbeziehungen stark verändern werden. Verträge regeln Leistungen in einem komplexen und dynamischen Umfeld mit möglicherweise langen Vertragslaufzeiten. Dann ergeben sich häufig Umstände, die man bei Vertragsabschluss nicht berücksichtigen konnte. Wenn beispielsweise ein selbstausführender Kaufvertrag bei Erreichen einer bestimmten Bedingung eine vollständige Zahlung implementiert hat, aber doch die Leistung nicht vollständig erbracht ist, so können Käufer:innen nicht durch ein Zurückhalten der Zahlung eine Klärung forcieren. Sie müssen stattdessen zum Erhalt der vollständigen Leistung den Rechtsweg einschlagen, der ihnen jedoch die Beweislast auferlegt.

Auch werden wir Konsument:innen zukünftig seltener mit der Kulanz von Seiten unserer Vertragspartner rechnen können. So könnte beispielsweise in einem Smart Contract implementiert sein, dass die Zündung eines geleasten Wagens bei Zahlungsverzug automatisch und ausnahmslos blockiert. Im aktuellen Vertragsumfeld würden wohl selbst hartherzigste Leasinggeber:innen eine Fahrt trotz ausstehender Rate nicht verwehren, wenn der oder die Leasingnehmer:in aufgrund eines Notfalles dringend ins Krankenhaus müsste. So können aus bloßen vertraglichen Verpflichtungen Handschellen werden.

Autor

Prof. Dr. Martin Ruckes

Porträtfoto von Martin Ruckes
Bild: KIT

Professor für Finanzwirtschaft und Banken am Institut für Finanzwirtschaft, Banken und Versicherungen.

"Ich bin überzeugt, dass selbstausführende Verträge zukünftig zu unserem Alltag gehören werden."

In einem funktionierenden Wettbewerbsumfeld ist davon auszugehen, dass sich die Arrangements durchsetzen, die ökonomisch am sinnvollsten sind und mit den geringsten Kosten einhergehen. Wir Konsument:innen werden also vom Wettbewerb zu einem gewissen Grad geschützt. Anders verhält es sich im Falle einer marktbeherrschenden Stellung einer Vertragspartei. Daher müssen Wettbewerbssicherung und der Schutz der Verbraucher:innen bei selbstausführenden Verträgen eine noch wichtigere Rolle einnehmen als bisher.

Ich bin überzeugt, dass selbstausführende Verträge zukünftig zu unserem Alltag gehören werden. Prinzipiell sind die neu geschaffenen vertraglichen Möglichkeiten kostensenkend und daher auch von Konsument:innenseite sehr zu begrüßen. Vertragliche Unvollkommenheiten und die Verschiebung der Kräfteverhältnisse der Vertragspartner bilden allerdings ein Risiko für uns Verbraucher:innen. Hier gilt es, mit wachem Auge die Entwicklung zu begleiten.

 

Zum Weiterlesen:

Cong, Lin William und Zhiguo He: Blockchain Disruption and Smart Contracts, Review of Financial Studies 32, 2019, S. 1754-1797.

Deutsche Presse Agentur: Forderungen nach automatischer Entschädigung bei Verspätung, 24. Oktober, 2020.

Fletcher, Laurence: Forget the Paper Trail – Blockchain Set to Shake Up Trade Finance, Financial Times vom 3. Dezember, 2019.

Kuhn, Johannes: Erst Bitcoin, dann die Welt. Süddeutsche Zeitung vom 12. Januar, 2015.