„Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“ – was heißt das?

Warum gestalten und fördern wir eigentlich Forschung? Forschung initiiert Fortschritt und Innovationen in der Gesellschaft. Forschung schafft neues Wissen, erklärt und bewertet dieses. Forschung unterstützt den Übergang hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, um zukünftigen Generationen vergleichbare Möglichkeiten, in Form von verschiedensten Ressourcen, zu bieten, die auch wir zur Verfügung haben. Das bedeutet auch, dass Forschung die gesellschaftliche Verantwortung zu einer nachhaltigen Entwicklung mitträgt. Doch was bedeutet, gesellschaftlich verantwortungsvoll zu forschen? In Deutschland ist im Grundgesetz (GG) die Freiheit der Forschung verankert (Artikel 5 (III) GG). Das bedeutet, dass Wissenschaft selbst die Kriterien aufstellt, nach denen Forschungsthemen ausgewählt und bearbeitet werden – also das „Was“ und das „Wie“ der Forschung.

Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung kommt damit die besondere Verantwortung zu, sowohl den Fortschritt zur Stärkung der Nachhaltigkeit zu unterstützen, als sich auch an gesellschaftlichen Bedarfen zu orientieren. Es bedeutet die kritische, systematische und nachvollziehbare Reflexion des gesamten Forschungsprozesses auf individueller wie auch institutioneller Ebene, also sowohl die Selbstreflexion der Forschenden als auch die Reflexion im Dialog mit der Gesellschaft. „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“ wird daher als ein Bestandteil eines Nachhaltigkeitsmanagements von Forschungseinrichtungen auf allen Ebenen verstanden (vergleiche dazu LeNa Homepage https://www.nachhaltig-forschen.de/). So zum Beispiel auch im jüngst gestarteten „Basisprojekt Nachhaltigkeit“ des KIT, das Nachhaltigkeit als Querschnittsthema in Forschung, Lehre, Innovation/Transfer und im eigenen Betrieb umsetzen möchte und dabei eine systematische Reflexion der eigenen Forschungsaktivitäten anhand von Kriterien betrachtet.

Reflexionskriterien für alle Forschungstypen und -disziplinen

Für die Umsetzung von „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“ wurden im Projekt „LeNa – Leitfaden Nachhaltigkeitsmanagement“ acht Kriterien erarbeitet, die prinzipiell auf alle Forschungsdisziplinen, Forschungstypen und in allen Phasen des Forschungsprozesses von der Themenfindung bis zur Evaluation und im Monitoring anwendbar sind. Sie bilden den Kern eines Reflexionsrahmens, der Orientierung und Unterstützung für Forschende sowie für Mitarbeitende im Forschungsmanagement hinsichtlich der Frage bietet, wie, mit wem und für wen gesellschaftlich verantwortliche Forschung stattfindet. Die Kriterien sind im Einzelnen:

Phasen des Forschungsprozesses und Kriterienset „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“ (Quelle: Ferretti, J., Daedlow K., Kopfmüller, J., Winkelmann, M., Podhora, A., Walz, R., Bertling, J., Helming, K. (2016): Reflexionsrahmen für Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung. BMBF-Projekt „LeNa – Nachhaltigkeitsmanagement in außeruniversitären Forschungsorganisationen“, Berlin, S. 9. https://www.nachhaltig-forschen.de/assets/lena_nachhaltig-forschen/Dokumente/LeNa-Handreichung_final.pdf)

Ethik 
Hier steht die argumentative Auseinandersetzung mit der Frage nach dem guten Leben und Handeln im Mittelpunkt. Zur Reflexion über ethische Grundfragen gehört die Bereitschaft, sich im Forschungsprozess mit unterschiedlichen Norm- und Wertvorstellungen auseinanderzusetzen und in einen Diskurs darüber einzutreten. 
Transparenz 
Zu einer möglichst umfassenden Offenlegung des Forschungsprozesses gehört die Darstellung der normativen und theoretischen Grundlagen, der methodischen und inhaltlichen Ausrichtung, der Ergebnisse, der Konsequenzen daraus, der getroffenen Abwägung zwischen Wissenschaftsfreiheit und der Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen sowie der Finanzierung der Forschung. Dazu gehört auch eine transparente, nutzergruppenspezifische Kommunikation. 
Interdisziplinarität 
Interdisziplinäre Forschung ist ein Forschungsmodus, der Ansätze und Methoden aus verschiedenen Disziplinen miteinander verbindet. Sie ermöglicht Ansätze zur Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme, die auf rein disziplinärer Basis nicht möglich wären. 
Transdisziplinarität 
Die transdisziplinare Forschung integriert praktisches Wissen von Akteuren außerhalb der Wissenschaft – zum Beispiel von Unternehmen, dem öffentlichen Sektor oder zivilgesellschaftlichen Interessengruppen – in den Forschungsprozess. 
Integrative Herangehensweise 
Ein integrativer Ansatz bezieht die für den Forschungsgegenstand relevanten Aspekte und Wechselwirkungen systematisch ein. Relevante Teilaspekte, z. B. Positionen gesellschaftlicher Akteure oder Nachhaltigkeitsdimensionen (zum Beispiel ökonomisch, ökologisch, sozial) sind zu identifizieren und in ihren Wechselwirkungen bezogen auf die relevanten räumlichen und zeitlichen Skalen zu berücksichtigen. 
Umgang mit Komplexität & Unsicherheit 
Risiken und Wissensunsicherheiten in der Betrachtung komplexer Systeme sollten in Forschungsprozessen angemessen berücksichtigt und in Bezug auf die Forschungsfrage, die angewandten Methoden und die Ergebnisse reflektiert werden. 
Nutzer:innenorientierung 
Nutzer:innenorientierung bedeutet, dass die Bedürfnisse der potenziellen Nutzer:innen (als eine spezifische Interessengruppe) der Forschungsergebnisse während des gesamten Forschungsprozesses berücksichtigt werden. 
Reflexion von Wirkung
Die möglichen Auswirkungen der Forschung auf die Gesellschaft und die Umwelt wird während des gesamten Forschungsprozesses berücksichtigt werden. 

Die Aufgabe der Forschenden ist, die gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen

Forschung wirkt in die Gesellschaft hinein, wie auch die Gesellschaft Forschung prägen und unterstützen kann. Forschende sollten daher ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, dass ihre Arbeit und deren Ergebnisse zukünftig an Qualitäts- bzw. Exzellenzkriterien gemessen werden, die neben wissenschaftsinternen Aspekten (Publikationen, Zitationen, ...) auch solche beinhalten, die ihre gesellschaftliche Relevanz und Wirkung adressieren. Im Rahmen des Projektes LeNa Shape „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung – Gestaltung, Wirkungsanalyse, Qualitätssicherung“ bearbeitet das ITAS in Zusammenarbeit mit verschiedenen Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft die Frage, was zentrale Gelingensbedingungen für Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung auf der individuellen, organisatorischen und institutionellen Ebene sind und wie diese umgesetzt werden können.

 

 

Hier finden Sie weitere Literatur zur Vertiefung

Projekt-Homepage „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“: https://www.nachhaltig-forschen.de

Reflexionskriterien LeNa Mikrotrainings: https://www.youtube.com/playlist?list=PL1l_ZKxxhvt1kR1ZIro-lUhFW-qDJW07o

Reflexionsrahmen für Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung: LeNa Reflektionsrahmen_deutsche Fassung LeNa_Framework of reflection_English_Version

LeNa Handreichung „Nachhaltigkeitsmanagement in außeruniversitären Forschungsorganisationen“: https://www.nachhaltig-forschen.de/assets/lena_nachhaltig-forschen/Dokumente/LeNa-Handreichung_final.pdf

Explikation zum BMBF-Verbundvorhaben Leitfaden Nachhaltigkeitsmanagement “LeNa Management”: https://www.nachhaltig-forschen.de/assets/lena_nachhaltig-forschen/Dokumente/Explikation_fuer_das_Vorhaben_LeNa.pdf

 

Autoren

Christina Benighaus

Christina Benighaus forscht zu transdiziplinären Partizipations- und Kommunikationsprozessen mit Bürger:innen und Stakeholdern in verschiedenen Themenfeldern. Sie arbeitet in der Forschungsgruppe Nachhaltige Bioökonomie am ITAS und am KIT-Zentrum Mensch und Technik.

Markus Winkelmann

Markus Winkelmann ist Soziologe und seit 2011 akademischer Mitarbeiter am KIT/ITAS. Schwerpunktthemen sind nachhaltige Entwicklung, gesellschaftliche Wirkung von Forschung, nachhaltiger Konsum, sowie transdisziplinäres Arbeiten und Energiethemen. Er arbeitet in der Forschungsgruppe Nachhaltige Bioökonomie.

Jürgen Kopfmüller

Jürgen Kopfmüller arbeitet am ITAS seit mehr als 30 Jahren zu verschiedensten Themen der Nachhaltigkeit. Seine Expertise liegt vor allem in der Entwicklung von Nachhaltigkeitskonzepten und der Nachhaltigkeitsbewertung sowie wissenschaftspolitischen Fragen. Er koordiniert am ITAS die Querschnittsaktivität Nachhaltigkeit und leitet die Arbeiten im LeNa Shape Projekt.