Baumaterialien aus industriellem Abfall – öko-industrielle Entwicklung in der Praxis

In Buenos Aires werden aus industriellen Abfällen nachhaltige Baumaterialien entwickelt – um Wohnraummangel, Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit mit einer öko-industrielle Entwicklungsstrategie gleichzeitig anzugehen.
Ein Schrottplatz im Sonnenuntergang, ein Mann mit einem Rucksack trägt Metallteile fort.Eduardo Carrera, Anfibia, Universidad Nacional de San Martín

“Recycling” findet in San Martín überwiegend unreguliert statt.

Drei Probleme – eine Lösung?

Überschuss und Mangel liegen manchmal nahe beieinander. In der Vorstadt San Martín in der Metropolregion Buenos Aires finden rund fünf Prozent der gesamten argentinischen Industrieproduktion statt. Doch manch hergestellter Stoff kommt nicht weit, oder irgendwann wieder zurück: Gleich nebenan liegt die größte Mülldeponie des Landes (CEAMSE), sie hat etwa die Fläche der Innenstadt von Karlsruhe. Um diese herum hat sich eine Recycling-Ökonomie gebildet, von der viele Menschen abhängig sind. Ein beträchtlicher Anteil davon findet jedoch informell und unreguliert statt, meist unter prekären und gesundheitsschädigenden Bedingungen. Ebenso bedenklich ist deren Wohnsituation: Zehntausende leben in notdürftig selbst konstruierten Häusern.

Doch könnte man nicht eigentlich die Abfälle der lokalen Industrien verwenden, um Baustoffe herzustellen, anstatt sie zu deponieren? Diese könnten doch für den Sozialwohnungsbau eingesetzt werden. Idealerweise entstehen dabei neue Arbeitsplätze, sowohl für das Recycling, die Herstellung und den Einbau der neuen Baustoffe.

Innovation für Nachhaltigkeit – neuartige Baumaterialien aus industriellem Abfall

Industrieabfälle fallen in vielerlei Form an: beispielsweise während der Herstellung als Verschnitt oder Stanzreste, als Verpackungsmaterial für den Transport zwischen Betrieben oder zum Kunden – und letztlich am Ende ihre Lebenszyklus. An der nationalen Universität von San Martín (UNSAM) werden am Institut für Architektur in interdisziplinären Workshops aus solchen industriellen Feststoffabfällen neuartige Baumaterialien entwickelt.

Dabei werden trotz der Verwendung von recycelten Stoffen hohe Qualitätsstandards erreicht, da die experimentellen Materialien umgehend vom Materialprüfungslabor der Universität getestet werden. Die „Molones“ – Isolationselemente aus zusammengepressten PET-Flaschen - erfüllen Brandschutznormen und bieten eine bessere thermische Isolationsleistung als künstliche Mineralwolle. Rund 20.000 PET-Flaschen „verschwinden“ so in einem kleinen Häuschen mit 40 m² Grundfläche.

Die Fassadenelemente „Eco-Chapas“ – Wellplatten aus Tetra-Pak-Abfällen – sind leichter als die weltweit verwendeten Versionen aus Faserzement. Durch diese beiden Materialien wird zusätzlich Holz für das Heizen und für die Tragkonstruktion gespart. Da die Rohstoffe von den ansässigen Unternehmen oder durch Müllsortierung bezogen werden könnten, entfallen zudem klimaschädliche Emissionen für den Transport.

Wie gleichzeitig ein sozialer Mehrwert entsteht: die öko-industrielle Entwicklungsstrategie

Auch wenn es manchmal so dargestellt wird: Technische Lösungen, die umweltschonender sind als konventionelle Verfahren, sorgen nicht automatisch auch für gesellschaftlichen Mehrwert wie faire Arbeitsverhältnisse und Inklusion gesellschaftlicher Randgruppen. Auch die Umwelt-Bilanz kann schlecht ausfallen, wenn etwa aufgrund fehlender Koordination die Rohstoffe nicht lokal bezogen, sondern importiert werden. Daher wird eine öko-industrielle Entwicklungsstrategie verfolgt, welche die Einbindung der lokalen Bevölkerung durch institutionelle Koordination und Nutzung der lokalen Ressourcen durch eine fundierte Analyse der Materialströme als Ziel hat.

Zunächst muss bedacht werden, dass es in Argentinien kein Kreislaufwirtschaftsgesetz und keine detaillierte Abfallverzeichnis-Verordnung als Grundlage der Sortierung gibt. Kleine und mittlere Unternehmen sowie Privathaushalte sind nicht zur Mülltrennung verpflichtet. Nur Großverbraucher, wie sehr große Produktionsunternehmen, müssen ihre Abfälle zu trennen - jedoch lediglich in die Kategorien „nicht wiederverwendbar“ und „wiederverwendbar“. Zu letzterem zählen Karton, aber auch PET-Flaschen und Tetrapak. Diese Rohstoffe für die neuen Baumaterialien können vor der Deponierung der Siedlungsabfälle heraussortiert werden. Hierfür werden die vorhandenen, gemeinnützigen Sortieranlagen („Cooperativas“) eingebunden. Steigt die Nachfrage nach aussortierten Stoffen für die Herstellung von Baumaterialien, entstehen hier weitere Arbeitsplätze.

Andere Rohstoffe für die neuen Baumaterialien müssen sortenrein direkt bei den Unternehmen abgeholt werden, beispielsweise Textilreste. Hierfür muss ein Sortierungs-, Informations- und Sammelsystem geschaffen werden, welches später von verschiedenen Unternehmen gemeinsam genutzt wird. Diese industrielle Symbiose wird auf Grundlage der Analysen der Universität San Martín und dem KIT (Institut für Regionalwissenschaft [IfR] und Institute of Eco-industrial development [IECO]) konzipiert und soll danach in Zusammenarbeit mit Unternehmensverbänden und Behörden umgesetzt werden. Neue Arbeitsplätze entstehen später vor allem für das Sammeln der Stoffe.

Eine dritte und vielleicht wichtigste Säule der Einbindung der lokalen Bevölkerung betrifft die Ausbildung junger Menschen: die UNSAM betreibt eine „Technical Highschool“ - vergleichbar mit einem technischen Gymnasium – in einem der ärmsten Stadtviertel. Diese bietet seit kurzem für die Abschlussklassen einen durch die Siemens Stiftung unterstützten, freiwilligen Kurs an, in dem die Schüler:innen lernen, mit digitalen technischen Plänen (CAD) umzugehen und damit gesteuerte Produktionsanlagen (CNC-Maschinen) zu bedienen. Praktisch angewendet werden diese neuen Kenntnisse dann anhand der Herstellung der nachhaltigen Baumaterialien in einem weiteren Workshop.

Da viele Jugendliche nicht direkt einen Ausbildungsplatz bekommen, können sie dort Fertigkeiten erlernen, die sie für eine Anstellung brauchen – zum Beispiel bei den Unternehmen, die derzeit beginnen, die nachhaltigen Baumaterialien herzustellen. Die ersten in Serie produzierten „Eco-Chapas“ wurden gerade bei einem öffentlichen Bauprojekt der Gemeinde eingesetzt. Und trafen auf Begeisterung bei den Handwerkern, da diese leicht und sicher zu schneiden sind.

Wie gut die neuen Materialen beim Wohnungsbau ankommen und wie viel Müll dadurch vermieden wird, lässt sich nur schwer abschätzen. Doch das Fundament dafür ist gelegt – im wahrsten Sinne, denn gerade, im Juli 2021, wurde mit der Montage eines Prototyp-Hauses begonnen, welches fast vollständig aus den neuen Materialien besteht.

 

Zum Weiterlesen:

Das vorgestellte Projekt findet im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen dem KIT und der argentinischen Universidad Nacional de San Martín (SPUK) statt.

Vortrag über das Projekt

Universidad Nacional de San Martín (UNSAM):

El instituto de arquitectura presentó el atlas de residuos sólidos industriales

Atlas de residuos sólidos industriales del partido de Gral. San Martín

Arquitectura Argentina Solidaria: Proyectos premiados que reflexionan sobre inclusión y solidaridad

Una lucha silenciosa y silenciada

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